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Collage mit 8 Porträtfotos von Ansgar Wucherpfennig.
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Björn Hadem
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Müssen die Menschen lernen, mit Unsicherheiten, vor allem mit Unverfügbarkeiten von Ressourcen zu leben? Im gemeinsamen Gespräch machen sich der Theologe und Jesuit Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig und HfMDK-Präsident Prof. Elmar Fulda auf die Suche nach Antworten.

DOKUMENTATION: BJÖRN HADEM

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Ansgar Wucherpfennig: Die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 habe ich als Vorwarnung dafür in Erinnerung, was auch bei uns passieren kann, wenn ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt. Zu dieser Zeit war ich gerade bei der Bundeswehr verpflichtet und musste in jenem Regen arbeiten, vor dessen radioaktivem Niederschlag, dem Fallout, immer wieder gewarnt wurde. Die Bundeswehr formulierte ständig denkbare Krisenszenarien und konfrontierte uns immer wieder mit potenziellen Bedrohungssituationen. Viele glauben, dass der Kalte Krieg im Grunde genommen der bessere Schutz vor einem „heißen“ Krieg war als die Situation, in der wir uns jetzt befinden – im Jahr zwei nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Frage

Elmar Fulda: Als Kind der 1960er-Jahre – ich bin 1964 geboren, Sie im Jahr darauf – kann ich mich an wenig größere Krisen erinnern, die meine Jugend maßgeblich geprägt hätten. Von der latenten, aber eher abstrakten Gefahr der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs abgesehen, oder den eher kuriosen autofreien Sonntagen während der Ölkrise in den 1979er Jahren.

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Ansgar Wucherpfennig: Ich habe nicht geglaubt, dass mit dem Ende des Kalten Krieges wirklich stabiler Frieden herrscht. Dem vermeintlichen Sieg des westlichen, sozial-marktwirtschaftlichen Systems über alle sozialistischen und kommunistischen Ansätze habe ich nie getraut. Immerhin hatten die marxistischen und sozialistischen Ideen das Potenzial, unser liberal-wirtschaftliches System kritisch in Frage zu stellen. Aber mehr als derlei politische Ereignisse bleiben mir eher persönliche Krisen meines eigenen Lebens als einschneidend in Erinnerung.

Frage

Elmar Fulda: Nach dem Fall der Mauer, nach Wiedervereinigung und Neuordnung in Europa schien das Mittel Krieg zur Durchsetzung politischer Ziele ein für allemal erledigt, zumindest bei uns.

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Collage mit 8 Porträtfotos von Ansgar Wucherpfennig.
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Björn Hadem
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Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig hat seit 2008 den Lehrstuhl für Exegese des Neuen Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt inne. Von 2014 bis 2020 war er auch deren Rektor.
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Ansgar Wucherpfennig: Als „Kirchenmann“ musste ich durchaus erstaunt feststellen, dass plötzlich Gottesdienste verboten waren. Das hat mich in gewisser Weise verletzt. Bedenken Sie: In den gesamten gesundheitlichen Krisen- und Kriegszeiten des Mittelalters waren die Kirchen für Menschen der Zufluchtsort schlechthin. Wie schnell die Menschen – mich eingeschlossen – derlei Verbote in Kauf genommen haben, finde ich überraschend. Die Institution Staat wollte mit diesen Mitteln der Freiheitseinschränkung unsere persönliche Gesundheit garantieren, wobei ich mir die Frage stelle: Möchte ich das überhaupt? Ist nicht Krankwerden etwas, was zum Leben dazugehört? Mit derlei Fragen wird unsere Gesellschaft noch länger beschäftigt sein. Plötzlich fand eine In-Frage-Stellung von Werten statt, über deren Sinnhaftigkeit wir noch einmal reflektieren sollten.

Frage

Elmar Fulda: Teilen Sie die Analyse, dass spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie Freiheiten und Möglichkeiten, die uns als selbstverständlich galten, in Frage gestellt sind?

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Ansgar Wucherpfennig: Problematisch fand ich die Erwartung an Institutionen wie beispielsweise Altenheime, im Grunde kompletten Gesundheitsschutz liefern zu sollen. Ich erinnere mich daran, dass Altenheime von Angehörigen verklagt wurden, deren Verwandte erkrankt waren.

Frage

Elmar Fulda: Corona hat die Gesellschaft, jede*n Einzelne*n vor völlig unbekannte Herausforderungen gestellt. Von der Politik wurden ad hoc Maßnahmen erwartet, die in ihrer Konsequenz im Grunde nicht vorhersehbar waren. Wahr ist aber, dass niemand, auch der Staat nicht, uns Gesundheit grundsätzlich garantieren kann.

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Ansgar Wucherpfennig: Ich glaube, dass das komplett abgesicherte Selbst nicht das Ziel von Menschsein sein kann. Gesundheit, ganz allgemein gesprochen, ist uns nicht verfügbar. Ich finde das Leben authentischer, lebenswerter und reizvoller, wenn es Unvorhersehbarkeiten enthält. Wenn ich etwa jemandem gestehe, dass ich ihn gern mag, aber nicht absolut sicher sein kann, dass er diese Sympathie erwidern wird. Die Unverfügbarkeit von Freiheit und Glück macht erst interessantes Leben aus. Genau in diesem Risiko-Bewusstsein, das wir wieder akzeptieren müssen, wird auch Kommunikation interessant und bestenfalls zu einem gelingenden Dialog.

Frage

Elmar Fulda: Haben wir, die Gesellschaft, in dieser Krise den Staat mit überzogenen Erwartungen überfordert?

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Ansgar Wucherpfennig: Ja, genau das ist meine Idee. Und im Lichte dessen können wir auch gut erkennen, was Musik und Religion zutiefst verbindet: Ich kann auf meinem Instrument den Lauf noch so oft üben und bin mir dennoch nicht sicher, ob er im Konzert gelingt. Und ob eine Predigt die Zuhörer*innen in einen echten Dialog bringt, kann ich nicht am Schreibtisch vorplanen.

Frage

Elmar Fulda: Sie reden von einem Risiko, das zugleich eine Quelle der Überraschung und Entdeckung sein kann?

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Ansgar Wucherpfennig: Die Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen wird uns sicher noch länger beschäftigen. Manche merken erst jetzt, was ihnen in dieser Zeit verlorengegangen ist. Ich redete gestern noch mit einer Studentin, die vor ihrem Uniabschluss steht, das Unigebäude aber noch kein einziges Mal betreten hat. Wir haben eine Grundverunsicherung in das Vertrauen in vermeintlich stabile Situationen erlebt. Der Begriff der Zeitenwende spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs passt genau zu diesem Phänomen. Die Idee, dass die Verhältnisse zuverlässig seien und man darauf vertrauen könne, dass Russland nicht so schnell in Europa eingreifen wird, ist weg, und zwar weltweit. Die Selbstverständlichkeit wird  hinterfragt, dass wir – zumindest aus unserer westlichen Sicht – bislang in einer Friedenszeit leben.

Frage

Elmar Fulda: Welche Folgen hat die Pandemie für uns?

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Ansgar Wucherpfennig: Bemerkenswert ist, dass Menschen in diesen Krisen Angst viel stärker ihren persönlichen Lebensbereich betreffend erleben – aber auch Glücksmomente intensiver wahrnehmen. Für den Ausdruck von Angst, Verunsicherung, aber auch Glück bieten Musik und Religion, Kunst überhaupt, meiner Überzeugung nach sehr wichtige Ventile. Umso tragischer finde ich es, wenn gerade in Krisenzeiten die finanziellen Mittel für Kultur und Religion gestrichen oder gekürzt werden. Langfristiger und nachhaltiger ist für mich, in diesen Bereichen mutig zu investieren.

Frage

Elmar Fulda: Ziehen wir denn die richtigen Konsequenzen aus dieser Analyse?

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Ansgar Wucherpfennig: Wenn Menschen kein Forum haben, die von der Verunsicherung ausgelöste Emotionalität auszudrücken, kann diese in Gewalt umschlagen – zumindest aber dort zu Tage treten, wo sie nicht ohne weiteres kontrollierbar ist. Das heißt konkret: Wenn Angst, zum Beispiel über den Verlust vertrauter Sicherheiten, die Emotionen bestimmt, dann besteht die Gefahr, dass diese Emotionen in Sprachlosigkeit, Aggressivität, Brutalität münden.

Frage

Elmar Fulda: Zu beobachten war eher das Gegenteil: Fokussierung auf Arbeit und Wirtschaft, nicht auf Bildung und Kultur.

Text

Ansgar Wucherpfennig: Durch die Kultivierung von Emotionalität – beispielsweise mittels Musik und Religion. Sie haben das Potenzial, destruktive Ängste zu artikulieren und kanalisieren.

Frage

Elmar Fulda: Wie lassen sich derlei Energien in konstruktive und kontrollierbare Bahnen lenken?

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Ansgar Wucherpfennig: Das ist jetzt ein heftiger Übergang, denn die größte noch nicht absehbare Schuld der Kirche im Missbrauchsskandal ist ja vermutlich, dass sie die Gefahr birgt, die konstruktive Kraft von Religiosität überhaupt – und längst nicht nur der kirchlichen – nachhaltig zu beschädigen. Auf jeden Fall galt und gilt es, die Spirale des Schweigens zu durchbrechen. Die von Ihnen erwähnte Krise reicht bis in den persönlichen Bereich meiner Familie und in mein näheres Umfeld. Das geht vielen so. Derartige Verletzungen lassen sich einfach kaum wieder heilen.

Frage

Elmar Fulda: Der Missbrauch-Skandal hat die katholische Kirche in eine existenzielle Krise gestürzt. Wie ist Ihre Haltung dazu?

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Ansgar Wucherpfennig: Wir müssen davon ausgehen, dass die Institution Kirche einen solchen Verlust von Vertrauen erlitten hat, dass sich nichts einfach regenerieren lässt. Es ist für die Kirche auch nicht damit getan, darüber nachzudenken, welche „Hausaufgaben“ sie erledigen könnte, um verloren gegangene Glaubwürdigkeit wieder herzustellen. Vertrauen ist etwas Unverfügbares. Überhaupt muss die Kirche lernen, dass die Menschen Glaube und Vertrauen nicht automatisch mit einer Kirchenmitgliedschaft verbinden. Nur ohne diese zwanghafte Verknüpfung gelingt der Kirche eine gedankliche Offenheit, um das wahrzunehmen, was sich „draußen“ bewegt. Und so hat sie eine Chance, Erzähl- und Diskussionsgemeinschaften zu kultivieren.

Frage

Elmar Fulda: Hier ereignete sich ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die gesamte Institution – kann die Kirche dieses Vertrauen jemals zurückgewinnen?

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Ansgar Wucherpfennig: Ich versuche mit fortschreitender Erfahrung, Geschehenes im Licht des geschichtlichen Hintergrundes zu erklären und zu verstehen. Dennoch treffen mich nach wie vor immer wieder existenzielle Verunsicherungen, derer ich mich nicht erwehren kann, zum Beispiel, wenn ich an das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine denke: Es fasst mich schon Angst an. Wir können uns nicht sicher sein, dass diese Auseinandersetzung nicht eine Eskalationsstufe erreichen könnte, die uns noch stärker in das Kriegsgeschehen zieht. Vor diesem Hintergrund schätze ich die verantwortungsbewusste, achtsame und ausgewogene Art und Weise, wie sich die deutsche Regierung mit dieser Kriegssituation in Beziehung setzt – eine kluge Politik, wie ich finde. Immerhin ist nicht auszuschließen, dass wenn Deutschland in das Kriegsgeschehen integriert ist, wir vom Weltkrieg nicht mehr weit entfernt sind.

Frage

Elmar Fulda: Begegnen Sie persönlichen Krisen mittlerweile anders, weil Sie vorangegangene Erschütterungen in Ihrem Leben geprägt und verändert haben?

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Ansgar Wucherpfennig: Ja – deshalb wäre es mir zu einfach, sich mit dem Prinzip Hoffnung zu begnügen. Wir müssen uns damit abfinden, dass es die einfache Lösung nicht gibt, Glück nicht jederzeit verfügbar ist.

Frage

Elmar Fulda: Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Menschen als Reaktion auf Krisen mit zu einfachen Lösungen begnügen?

Text

Ansgar Wucherpfennig: Widerstandskraft – gegen die Angst, die sich breit macht. Widerstand gegen jene Kräfte, die in der Gesellschaft auseinanderstreben. Daraus könnte die Stärke erwachsen, sie auch wieder zusammenzubringen. Geeigneter als den Begriff der Hoffnung finde ich in diesem Zusammenhang das Bild des aufrechten Gangs: Wir sollten Mut haben, uns bei allem Bedrängenden immer wieder aufzurichten, ebenso neben- wie aneinander.

Frage

Elmar Fulda: Was braucht unsere Gesellschaft im Moment am dringendsten?

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Müssen die Menschen lernen, mit Unsicherheiten, vor allem mit Unverfügbarkeiten von Ressourcen zu leben? Im gemeinsamen Gespräch machen sich der Theologe und Jesuit Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig und HfMDK-Präsident Prof. Elmar Fulda auf die Suche nach Antworten.

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